Public going public

Es wurde aber auch langsam Zeit. 

Wer die Web 2.0-Entwicklung der letzten Jahre verfolgte und sich, aus beruflichen Gründen, nolens volens an der Nutzung diverser Applikationen beteiligte, musste immer wieder schmerzvoll feststellen: 

Hier gehen Redundanz und Trivialität eine perfekte Symbiose ein.

Die mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks jeden Tag um dieselbe Stunde auf Facebook publizierte „Information“, Person X oder Y wäre gerade „im Büro angekommen“, würde sich mal eben schnell „eine Tasse Kaffee“ holen oder hätte ein „tolles Wochenende“ hinter sich gebracht, konnte in ihrer gähnend langweiligen Unbedeutsamkeit nur noch durch die entsprechende Bebilderung übertroffen werden.

„Nein“, schrie da selbst der von High und Low Society-Shows und Illustrierten schon lange von der Hochkultur weg entführte Mensch innerlich auf, „dieser Schwachsinn interessiert mich nun aber wirklich überhaupt nicht..!“ um gleich darauf seufzend zur Kenntnis nehmen zu müssen: Das hält die Autoren solch niederschmetternd uninteressanter Botschaften keineswegs davon ab, sie weiter in die Welt zu setzen, als wären es Prophezeiungen, von deren allgemeiner Kenntnisnahme das Schicksal der gesamten Menschheit abhinge.

Nun, endlich! ist die Generation Web 2.0 aufgewacht.

Mit WikiLeaks und den kämpferischen Reaktionen ihrer Sympathisanten auf die Versuche der USA, die Enthüllungsplattform mundtot zu machen, zeigt sich die wahre Stärke dieser zugleich beängstigend und betörend anarchistischen Technologie sowie ihrer Anwender und Verteidiger:

Unterdrückung der Wahrheit durch „die da oben“ ist so nicht mehr möglich, wenn „die da unten“ sich das nicht gefallen lassen wollen. Und dass sie es sich nicht gefallen lassen wollen, tritt immer klarer zu Tage.

In einer Zeit, in der die so genannten Eliten aus Politik und Wirtschaft nicht nur klammheimlich hinter, sondern immer öfter und ungeniert auch vor den Kulissen intrigieren und gegen jene, in deren Auftrag und Interesse sie eigentlich tätig sein sollten, sämtliche Register der Macht ziehen, scheint es nicht nur aus demokratiepolitischen Gründen nötig, sondern auch aus moralischen Überlegungen heraus zulässig, diesem Treiben notfalls auch auf illegale Weise Einhalt zu gebieten.

Auf illegale Weise?

Soll das als Aufruf zu Gesetzesbruch und Gewalt zu lesen sein?

Wenn die USA legal (!) gegen ihr ungenehme Personen vorgehen, wie dies die neueste Attacke auf Twitter-User zeigt, stößt die Forderung nach gesetzestreuem Gehorsam gegenüber der Staatsmacht an ihre Grenzen.

Dass die USA gegen das Recht auf Meinungsfreiheit verstoßen, wenn sie WikiLeaks & Co. bedrohen, wird erst noch zu beweisen sein. Im Hintergrund läuft jedenfalls bereits die juristische Maschinerie auf Hochtouren, um der Enthüllungsplattform und ihren Anhängern Taten nachzuweisen, mit denen sie trotz oder gerade durch die Anwendung der Meinungsfreiheit gegen Gesetze verstoßen haben könnten.

Dass es hier aber nicht nur um die Frage der Legalität (oder Illegalität) der Ausübung von Meinungsfreiheit geht, zeigt ein wichtiger Gedanke, zu dem sich Thomas Jefferson, dritter Präsident der USA und wichtigster Autor der „Declaration of Independence“ von 1776 von seinem Ideengeber, dem englischen Philosophen John Locke (1632 bis 1704), hatte inspirieren lassen.

Im zweiten seiner „Two Treatises of Government“ schrieb Locke nämlich, dass schon alleine ein Vertrauensbruch durch die Regierung und nicht erst ein legaler Bruch des „original contract“, also des Vertrages zwischen Volk und Regierung, das Recht auf gewaltsamen Widerstand gebiert.

Weder Locke in seinem „Second Treatise“, noch Jefferson in der „Declaration“ führen näher aus, worin dieser Widerstand im Detail bestehen soll bzw. bestehen darf. 

Die Guerilla-Aktionen, mit denen die WikiLeaks-Fans weltweit für ihr Verständnis von Meinungsfreiheit kämpfen, sind vielleicht illegal. In der Art jedoch, wie sie die technischen Möglichkeiten der Generation Web 2.0 für ihr Ziel einsetzen, könnten sie kaum stimmiger sein:

Die Staatsmacht missbraucht ihren ursprünglichen Auftrag durch das gezielte (und vielleicht sogar als legal darstellbare) Beschneiden der Informations- und Meinungsfreiheit durch die versuchte Beeinträchtigung von deren Trägermedium und seiner Nutzer.

Das Volk begehrt dagegen auf und leistet Widerstand: durch Gegenangriffe mittels eben dieses Mediums, dem wichtigsten Mittel, auf das die Vertreter von Informations- und Meinungsfreiheit heute global zurückgreifen können.

Die Weltöffentlichkeit hat soeben begonnen zu begreifen, dass sie öffentlich werden muss.