Der Untergang des Abendlandes oder seine Wiedergeburt..?

Nun also Erdoğan.

Der türkische Möchtegern-Alleinherrscher spricht Klartext mit Deutschland, Österreich und den Niederlanden und durch sie, pars pro toto, mit der gesamten Europäischen Union:

„Wenn ihr nicht das tut, was wir wollen, also Wahlkampf in euren Ländern machen, dann seid ihr Faschisten und verratet die Werte der Demokratie, die ihr uns gegenüber permanent einmahnt. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt!“

Hat er Recht mit dieser Aussage und der unverhohlenen Drohung, sein Arsenal an möglichen Grauslichkeiten auszupacken?

Natürlich nicht.

Wer Intoleranz gegenüber nicht tolerant ist, muss sich deswegen keineswegs selbst der Intoleranz zeihen lassen.

Dieses Verhalten geht klar als Notwehr durch.

Nein, weder Deutschland, noch Österreich, noch die Niederlande und schon gar nicht die EU insgesamt muss sich von Erdoğan auf der Nase herumtanzen lassen. Nicht einmal deshalb, weil er die Schlüssel zu jenem Tor in der Hand hält, das eine weitere Flüchtlingswelle daran hindert, Europa zu überfluten.

Natürlich wäre letzteres nicht angenehm.

Dennoch sollte die EU die Standhaftigkeit gegenüber einem potenziellen Diktator nicht leichtfertig auf dem Alter des Komforts opfern.

Wenn Europa beschließt, Erdoğan zu zeigen, wo der Hammer hängt, dann müssen alle Mitgliedsländer mitmachen bei der Aufnahme der Flüchtlinge, nicht nur jene drei, die bei den Hilfesuchenden am beliebtesten sind: Schweden, Österreich und Deutschland.

Dennoch ist es fraglich, ob es klug wäre, den „Boss vom Bosporus“ (Copyright: extra 3) vor den Kopf zu stoßen. Aber nicht seinetwegen, sondern wegen der Türkinnen und Türken in ihrer Heimat und jener, die in Europa leben.

Sie könnten sich – noch mehr – mit ihrem Präsidenten solidarisieren und (siehe Bundespräsidenten-Wahl 1986) „jetzt erst recht!“ für ihn und seine Pläne zur endgültigen Abschaffung der Demokratie stimmen.

Die Gefahr, dass genau das passiert, scheint durch die Kritik  an Erdoğan innerhalb Europas langsam zu wachsen.

Was also tun?

Entweder die EU beschließt, ab sofort keinen anderen außer EU-Politikerinnen und Politikern zu erlauben, auf ihrem Hoheitsgebiet Wahlwerbung zu machen. Das wäre die konsequenteste Entscheidung. Sie müsste allerdings auf Dauer etabliert werden, damit sie nicht zu eindeutig nach einer „Lex Erdoğan“ riecht.

Das würden vielleicht sogar die stolzen Türken und Türkinnen verstehen und anerkennen:

„Diese Union aus mehr als zwei Dutzend Staaten steht wie ein Mann hinter einem klaren Prinzip und lässt sich nicht erpressen. Da sollten wir am besten auch dabei sein.“

Eine solche Handlungsweise müsste aber von mindestens einer wichtigen Maßnahme begleitet sein – dem offiziellen Angebot an die Türkinnen und Türken:

„Wenn ihr euch für die Demokratie entscheidet, garantieren wir euch einen seriösen Mehrstufenplan zur Aufnahme in die EU mit einem Zeithorizont von maximal zehn Jahren.“

Die EU selbst sollte allerdings bis zum Abschluss dieses Mehrstufenplans an ihrer politisch-rechtlichen Struktur arbeiten und sie solchermaßen umbauen, dass die Einführung einer Diktatur für ein Land verunmöglicht wird, sobald es Mitglied der Union ist. Ob und wie das juristisch umzusetzen ist, weiß ich nicht.

Oder aber wir erlauben die paar Wahlkampfauftritte und zeigen der türkischen Bevölkerung in der Türkei und in Europa, wie Demokratie geht.

Es ist schwer vorauszusagen, ob Erdoğan eine solche Aktion nicht vielleicht ebenfalls in seiner Heimat als Sieg verkaufen und sein Volk dadurch noch stärker hinter sich, den „starken Mann“, der es „denen von der EU gezeigt“ hat, scharen kann.

Einen Versuch wäre es womöglich wert.

Ich persönlich präferiere die Variante, der Bevölkerung der Türkei ein seriöses EU-Beitrittsangebot zu machen, das daran geknüpft ist, demokratische Spielregeln einzuhalten – und das heißt zunächst einmal, Erdoğans Pläne zum Umbau der Verfassung abzulehnen.

Denn ein islamisches Land als Teil der Europäischen Union könnte, neben dem einen oder anderen Risiko, auch viele Chancen in geopolitischer, ökonomischer und – ja, auch – kultureller Hinsicht bedeuten.

In Anbetracht der Tatsache, dass in einigen, nicht unwichtigen Ländern der EU ohnedies bereits große türkische Gemeinschaften leben, wäre dieser Ansatz noch besser zu argumentieren.

Wie dieser Plan allerdings den islamkritischen Menschen in Europa und jenen rechten Politikerinnen und Politikern schmackhaft gemacht werden kann, ist wahrscheinlich die schwierigste Frage.